Die Sonne versinkt langsam im oststeirischen Hügelland unweit der Grenze zu Ungarn. Das rötliche Licht verleiht der Szenerie am renovierten Gutshof Ähnlichkeit mit den großformatigen Werbeprospekten der aus unerfindlichen Gründen wiedererstarkten Trachtenindustrie. Während sich noch die letzten Strahlen den Hügel heraufbemühen, über die dunklen Fichtenwälder am Horizont und die langen Grashalme der Wiesen, deren blassgrüne Farbe schon die Sehnsucht nach der letzten Mahd in diesem Jahr und der anschließende Winterruhe verrät, lehnt sich die Braut im weißen Trachtendirndl müde im Holzsessel zurück und betrachtet ihre Gästeschar. Neben der halb aufgegessenen Hochzeitstorte verteilen sich junge Menschen, Designerdirndl, Verwandschaft, Blümchenmuster und Lederhosen pittoresk in Grüppchen über die Terrasse des Gasthofs.
Synchron mit der Farbe des Himmels verändert sich auch das Gesprächsthema bei Schilcher und Prosecco von der Isabellatraube von Anlegestrategien über den anstehenden Maledivenurlaub zu Politik und damit wie selbstverständlich zur Situation an den Grenzübergängen nur wenige Kilometer weg, jedoch gerade weit genug entfernt von dieser landschaftlichen Erhöhung um sichtbar zu sein.
Das funktioniert einfach nicht so. Darin sind sich alle einig. Trotz der Einigkeit in diesem Punkt steigt die Beteiligung und damit die Lautstärke der Gesprächsteilnehmer an. „Wir können die nicht alle aufnehmen, wir haben nicht genug Arbeitsplätze!“ Auf geübte Leser der Kronenzeitung wirkt dieser Satz so normal wie das Amen nach dem Vater Unser. „Die sind einfach anders wie wir, da gibt’s immer Probleme,“ meldet Onkel Mirko seine Zweifel an, dass die Integration dieser Menschen so reibungslos wie nach dem Yugoslawienkrieg abläuft.
Doch die eigentlich Frage wird an diesem Tag nicht diskutiert. Was ist an dieser „Krise“ anders? Was löst diese Aufregung in den Zeitungen, die halbherzigen Social Media Kampagnen, die Stadtgespräche aus? Was bringt offensichtlich wohlhabende Menschen dazu, sich um Arbeitsplatz und Wohlstand bedroht zu fühlen? Der Bürgerkrieg in Syrien wütet seit fast 5 Jahren, im Irak scheint die letzten hundert Jahre noch nie Ruhe geherrscht zu haben und Meldungen von Bombenanschlägen in Afghanistan sind so normal dass Layouter der Nachrichten schon fix einen Platz irgendwo am Rand der Zeitungsseite einplanen können.
Was hat sich so geändert? Das Bewusstsein der physischen Nähe? Die Bilder dieser Menschen vor vertrauten Landschaften? Das Sichtbarwerden der Misere?
Doch durch die Einrichtung sogenannter Hotspots irgendwo, egal nur weit weg, wie von der EU geplant löst anscheinend das grösste Problem: die Sichtbarkeit.
Mit diesem Beitrag nehme ich an der Blogparade #fluchtgeschichten teil. Weitere Beiträge zu diesem Thema findet ihr unter: http://blog.litmuc.net/2015/10/19/blogparadefluchtgeschichten/
Guter Beitrag zu unserer Blogparade – und tolle Bilder. Vielen Dank!
Gut gelungener Kontrast
wobei es schwierig ist ein so großes Thema in so kurzem Text festzuhalten und trotzdem ausreichend zu differenzieren.
Vielen Dank fürs Feedback. Du hast recht, die gesamte Komplexität dieses Themas lässt sich nur schwer in einem Blogbeitrag darstellen