Japan (661)

Vorbei an der Kreuzung in Shibuya

 September 2013

Schweigend gingen wir die enge, düstere Gasse den Hügel hinauf. Je weiter wir uns von der Hauptstraße entfernten, umso weniger wurden die Schaufenster und die schwirrende Geräuschkulisse der Einkaufszentren und Restaurants verebbte. Die schwüle Hitze der Nacht vermischte sich mit der Dunkelheit. Hatte die Gasse bei Tag noch einen leichten Anflug von Schäbigkeit gehabt, maskierte sie diese nun mit blinkenden Leuchtreklamen. Obwohl es nahezu ausgeschlossen war, dass ich jemanden in dieser Millionenstadt kennen könnte, hielt den Kopf gesenkt und vermied Augenkontakt mit den weniger werdenden Passanten auf der Straße. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, dass es den Entgegenkommenden ähnlich ging. Man nahm sich nicht zur Kenntnis, vermied jeden Augenkontakt und ging so schnell wie möglich seiner Wege. Die Musik der Bar klang noch in meinen Ohren und der letzte Cocktail ließ mich die Steigung der Gasse doppelt spüren. Plötzlich hielten wir vor einem dezent beleuchteten Gebäude, auf der der Schriftzug „stay“ erleuchtet war. Unsicher blickte mich mein Begleiter an. „Wir sind da.“

Ja, wir waren da. In einem Love hotel am Love Hotel Hill in Shibuya, Tokio.

Gleich hinter dem riesigen Kaufhaus Shibuya 109 erstreckt sich der berüchtigte Love Hotel Hill. Vorbei am wartenden Getümmel rund um die Statue von Hachikō, dem Platz am Shibuya-Bahnhof, den man vereinbart um sich sicher zu finden im endlosen Gewirr des Riesenbahnhofs, oder besser gesagt, für Graz-Insider: die Weikhard-Uhr von Tokio. Vielleicht muss man hiervon jedoch in der Vergangenheit sprechen und Hachikō war das einmal, denn mittlerweile hat Hachikō einen sehr hohen Bekanntheitsgrad, ist in jedem Reiseführer erwähnt und seine Geschichte wurde mit Richard Gere verfilmt. Die Tokioter haben inzwischen bestimmt schon einen besseren Treffpunkt gefunden, einen der nicht von fotografierenden Touristen überrollt wurde. Wer also den Hund und die meistfotografierte Kreuzung der Welt hinter sich lässt, und auch nicht in Shibuya 109 dem Kaufrausch erliegt, findet direkt dahinter Love Hotel Hill. Je weiter man den Hügel raufgeht, umso weniger des Luxus vorgaukelnden Glitzerns ist zu sehen. Die Straßen wirken nicht unbedingt schäbig, doch bei Tageslicht ist klar erkennbar, dass die Häuserfronten nur bei Nacht wirken müssen. Die Fassaden sind Großteils aus Plastiks, und die Reihe der Love hotels wird immer wieder unterbrochen von Convenient stores, Hostels und Wohnhäusern.

Tokio 057

Falls aus dem vorangegangenen Text noch nicht klar ist, worum es sich bei einem Love hotel handelt: es sind Hotels, bei denen die Zimmer stundenweise, oder ab einer gewissen Uhrzeit, meist ab 23 Uhr, für die restliche Nacht. Da in Tokio bekannterweise Platznot herrscht, sind Love hotels vor allem bei jungen Pärchen ohne eigene Wohnung sehr populär. Leider ziehen solche Etablissements auch immer Zwielichtiges an, und so gab es in der Vergangenheit Probleme mit Kriminalität und Prostitution. Love hotels werden äußerst diskret behandelt, daher braucht man zum Einchecken keinen Ausweis und jeder persönliche Kontakt mit Angestellten wird vermieden. Außer man versteht wie ich nicht wie man beim Automaten das richtige Zimmer auswählt, dann hilft einem ein Angestellter hinter einem Schalter weiter, der so gestaltet ist, dass man den Angestellten nicht sieht und jeder Augenkontakt vermieden wird.

Und will man tatsächlich in einem Stundenhotel in Tokio übernachten?

Ja will man! Es gibt etliche Gründe die dafür sprechen, diesen doch etwas seltsamen Auswuchs der japanischen Popkultur selbst einmal auszuprobieren, einige davon auch von praktischer Natur. Man muss nicht vorreservieren. Man kann meines Wissens auch nicht. Klar, das Hello Kitty themed Zimmer wie auf Wikipedia beschrieben ergattert man dann halt nicht mehr, aber in einer Stadt, in der die letzte Ubahn um 12 fährt und eine Taxifahrt ein Vermögen kostet, ist die Möglichkeit, in einem bezahlbaren Zimmer in der Nähe eines desbekanntesten Ausgehviertel zu übernachten, eine Überlegung wert. Und verglichen mit einem Kapselhotel ist die Aussicht auf ein mit einem bestimmten Thema wie z.B. Almhütte, Schmetterlinge etc. eingerichteten Zimmer, meistens mit Whirlpool und Riesenflachbildfernseher doch sehr verlockend.

Japan (2832)

Ein Nachteil zu einem normalen Hotelzimmer besteht noch: sobald man im Zimmer eingecheckt ist, kann man nicht mehr raus. Besser gesagt, raus schon, aber dann nicht mehr hinein.  Eine Übernachtung in einem Schmetterlingszimmer mit Whirlpool,  Fernseher, Einmalzahnbürste, Einmalzahnpasta, Einmalrasierer und sonstigen möglichen Hygieneartikeln kostete 2013 ab 23:00 bis nächsten Mittag ca. 80€. Je nach Einrichtung und Design sind die Zimmer auch schon deutlich günstiger oder teurer zu haben.

Ein Gedanke drängt sich natürlich noch auf: trotz der auf Hochglanz polierten Flachbildfernseheroberfläche, ist und bleibt ein Love hotel doch nur ein schmuddeliges Stundenhotel und in den selben Bettzeug ist vielleicht nur ein paar Stunden vorher schon wer anderes gelegen. Ja dieser Gedanke geht einem durch den Kopf. Deshalb hab ich die schneeweissen Laken erst mal gründlich untersucht. Sie wirkten frisch gewaschen, gebügelt und faltenfrei.  Ordentlicher als in so manchen 4 Sternehotel in der Steiermark. Aber in einer Stadt, in der jede öffentliche Ubahntoilette mindestens genauso sauber ist wie die von mir geputzte daheim, war auch nichts anderes zu erwarten.

Tokio 354

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